Sternenritual - Per ignem ad astra am 03.08.2023

Die absolute Wahrheit gibt es nicht

Auch Thelemiten stehen immer wieder vor der Herausforderung zu entscheiden, welche Themen und Modelle der Welt brauchbar sind und welche nicht. Womit lohnt es sich zu beschäftigen, was ist sinnvoll, was nicht?

Bei der heutigen leichten Zugänglichkeit zu Informationen aller Art habe ich immer wieder die Qual der Wahl. Mehr noch, es ist eine echte Herausforderung für mich geworden, solche Entscheidungen zu treffen. Heute kann jeder, der will ein Buch schreiben und veröffentlichen, von Artikeln und Videoclips ganz zu schweigen.

Diese Vielfalt ist einerseits toll, denn es gibt Informationen zu fast jedem Thema, von dem man früher nicht mal hätte träumen können. Anderseits stehe ich wie alle anderen Menschen auch vor der Frage, wie selektieren. Die eine absolute Wahrheit ist, wenn es sie denn je gab, Geschichte.

Heilsversprechen wohin das Auge blickt

Wenn ich im Netz nach einem bestimmten Thema suche, stoße ich oft auf Anbieter, die behaupten, die einzig und allein richtige Lehre und Lösung anzubieten. Das ist de facto ein Anspruch, welcher als absolute Wahrheit verkauft wird.

Die Themenbereiche sind vielseitig und beziehen sich auch nicht immer auf spirituelle Themen. Der eine verkündet, die einzig wahre Yogaübung als Heilungsversprechen gegen Rückenschmerzen zu haben. Der andere verkauft sein Ernährungskonzept als den einzig wahren Weg zum Abnehmen. Der dritte kennt den garantiert richtigen Weg zur Erleuchtung für jedermann.

Ganz krass findet man diese Haltung in der Werbe-Branche.

Werbe-Tricks sind sehr geschickt darin, uns dazu zu bewegen etwas Spezielles zu kaufen, sei es eine Mitgliedschaft, ein Produkt, einen Kurs. Ganz übel wird es, wenn der Anbieter an die Ängste der Menschen appelliert. „Macht das nicht so, das ist ganz gefährlich …“, „Nur so ist das richtig …“, „Nur diese Methode ist erfolgreich …“ Da wir Menschen dazu tendieren, den sicheren Weg zu wählen, kaufen dann viele ein Produkt, nur um auf der sicheren Seite zu sein. Konzepte nach dem Motto „absolute Wahrheit“ haben nach wie vor Erfolg.

Falsches Modell der Welt oder absolute Wahrheit?

Keine Frage, es gibt viele brauchbare Modelle. Ist es aber so einfach, dass wir sagen können, es gäbe ein wahres Modell der Welt und viele falsche daneben?

Hm, das kommt darauf an, was man unter Wahrheit versteht. Man verwendet oft, ohne es zu wissen, eine zweiwertige Logik, wenn man den Begriff wahr oder den Begriff falsch verwendet. Diese Logik besagt, dass eine Sache entweder wahr oder falsch ist, aber nicht beides. Entweder existiert Gott oder er existiert nicht. Wenn der christliche Gott existiert, und er der einzige Gott ist, dann müssen die anderen Religionen falsch sein. Wer Falsches verkündet, lügt folglich oder irrt blind in seiner Verblendung umher.

Mit so einer Weltsicht ist die Welt entweder schwarz oder weiß. Aber ist die Welt wirklich so einfach aufgeteilt in Schwarz und Weiß? Nein, natürlich nicht! Die Welt, in der wir leben, ist bunt, wie jeder sehen kann.

In vielen Bereichen des Lebens ist uns das klar. Wir wissen alle, dass die Wahrheiten von einst nicht mehr so einfach über allem stehen. Es gibt zum Beispiel in unserem heutigen Verstehen nicht mehr nur Mann und Frau, sondern auch diverse Menschen, sowohl Mann als auch Frau oder weder Mann noch Frau.

Absolute Wahrheit – die Grenzen von wahr oder falsch

In vielen Situationen brauchen wir selbstverständlich die zweiwertige Logik. Wenn wir zum Beispiel ein Haus bauen wollen, ist es wichtig, dass wir uns auf Tatsachen beziehen. Wir wollen, dass die Berechnungen der Statik stimmen und uns darauf verlassen, dass alle Maßnahmen funktionieren. In vielen Situationen im Leben, vor allem, was die persönliche Entwicklung betrifft, sieht es jedoch etwas anderes aus.

Letztendlich ist es oft ziemlich nutzlos, darüber zu streiten, was richtig oder was wahr ist. Ein Modell beleuchtet ein Thema aus einem bestimmten Blickwinkel. Ein Modell kann mir z. B. helfen, ein bestimmtes Ziel zu erreichen oder etwas besser zu verstehen. In besten Fall ist es so, dass es in mir eine Idee auslöst, was ich in meinem Leben verändern kann. Dieser neue Durchblick gibt mir manchmal einen Impuls, etwas zu tun oder hilft mir vielleicht, einen anderen Menschen besser zu verstehen.

Manchmal kann ich aber keinen persönlichen Bezug zu einem Modell herstellen. Ich sehe keine neue vorteilhafte Perspektive, die ich in Relation zu mir selbst und meinen Zielen setzen kann. Wenn ein Modell mir keinen Impuls gibt, weil ich damit nichts anfangen kann, dann ist es für mich nicht relevant. Ob dieses Modell nützlich oder „wahr“ ist, entzieht sich meiner Beurteilung. Außerdem bedeutet das nicht, dass für andere Menschen das Gleiche gilt. Vielleicht ziehen sie einen Nutzen aus einem Modell, mit dem ich nichts anzufangen weiß.

Alle Worte sind heilig und alle Propheten wahr

Im Liber L vel Legis heißt es im Vers I/56: “… Alle Worte sind heilig und alle Propheten wahr, außer dass sie nur ein wenig verstehen …“

Für mich trifft dieser Vers das Herz des Themas. Viele Religionen haben interessante Modelle der Welt, bei welchen sich eine Vertiefung lohnen kann. Pervers wird es aber, wenn solche Ideen als absolute Wahrheit bzw. als Dogmen verstanden und verkauft werden. Was nach wie vor viel zu oft passiert ist, dass bestimmte Perspektiven einen allgemeingültigen Stempel bekommen und als Wahrheit verkündet werden. Und gerade diesen Fehler begehen die meisten, wenn nicht alle monotheistischen Religionen.

Sie beanspruchen, im Besitz der alleinigen Wahrheit zu sein, denn eben darauf beruht ihre Macht. Doch diese ultimative Wahrheit über Gott und die Welt gibt es nicht mehr. Zumindest halte ich solch eine Behauptung für eine unbrauchbare Perspektive.

Das gleiche Prinzip kann man auf andere, weniger allgemeingültig gemeinte Modelle der Welt übertragen, z. B. auf Methoden. Wie gesagt, können Methoden nützlich sein. Sie werfen ein Licht auf eine ganz bestimmte Art und Weise, Probleme zu lösen. Ob sie wirklich funktionieren, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Es hängt zum Beispiel auch davon ab, ob ich überhaupt einen Zugang zu einem Thema habe.

Sind Modelle der Welt beliebig?

Nein, sind sie nicht. Wenn man mit dem Auto nach München fahren will, dann ist es erfolgversprechend, eine Karte zu nutzen, die den Weg dorthin zeigt. Eine Karte, auf der nur die Straßen rund um Hamburg verzeichnet sind, wird mir in diesem Fall nicht viel nutzen. Aber letztendlich sind immer verschiedene Routen Richtung München befahrbar.

Der eine verfolgt vielleicht das Ziel, so schnell wie möglich in München anzukommen und wählt die schnellste Route. Der andere möchte eine schöne Erlebnisreise machen und ein paar Freunde auf dem Weg besuchen und wählt eine längere Route. Einer nimmt das Auto, der andere den Zug.

Es ist sinnlos, sich über die absolute Wahrheit des allein richtigen Weges zu streiten, da die Bedürfnisse, die dahinter strecken, ganz verschiedene sein können. Aber es ist auch nicht beliebig, welchen Weg ich nehme. Wenn ich die falsche Karte in der Hand habe, werde ich vielleicht nie am Ziel ankommen.

Um zu beurteilen, ob ein Modell der Welt sinnvoll ist, muss also der persönliche Kontext klar sein. Für wen ist was, wann, in Bezug auf welches Ziel sinnvoll?

Können Modelle veralten?

Natürlich können sie das, man denke nur an das Modell, dass die Sonne um die Erde kreist. Doch wenn es um Modelle als Wegweiser für die persönliche Entwicklung geht, stellen sich andere Fragen als die nach einer absoluten Wahrheit.

Welches Konzept hilft wem? Je deutlicher der Kontext und je mehr Informationen vorliegen, desto besser kann ich das beurteilen. Wichtig, um mal dem Zeitgeist zu widersprechen, ist nach meiner Erfahrung auch: Ein Modell, wie zum Beispiel die Rolle des Atmens für das emotionale Gleichgewicht muss nicht unbedingt neu sein, um interessant und hilfreich für mich zu sein.

Es gibt sogar Ansätze antiker Denker, die überraschend und inspirierend sein können, vielleicht ja deshalb, weil ich sie zum ersten Mal verstanden habe. Aber auch aus den Wissenschaften kommen immer wieder neue Ansätze in die Kommunikation. Die Komplexitätsforschung z. B. arbeitet mit Computer-Simulations-Modellen und liefert Ergebnisse, die auch für uns Thelemiten relevant sind.

Kompass für´s Leben

Es hilft also in jedem Fall, zu prüfen, ob das Konzept einen Gewinn für mich bringt oder nicht. Dabei ist es weniger wichtig, ob das Konzept uralt oder brandneu ist. Relevant ist, ob es mir hilft, etwas Neues zu verstehen und mich in eine Richtung zu verändern, die ich im Sinn habe.

Werde ich dadurch handlungsfähiger? Hilft mir das Modell, meine Ziele zu erreichen? Komme ich auf neue Ideen? Inspiriert es mich? Manche Modelle eröffnen neue Wege, andere verschließen Wege. Was eröffnen und verschließt sich durch dieses Modell, frage ich also und was werden die Konsequenzen sein, wenn ich dieses Modell anwende? Für mich oder für die Gemeinschaft oder für die Welt? In was für einer Welt will ich letztendlich leben?

Das sind für mich Sinn-relevante Fragen. Solche Fragen sind es, die mir einen Kompass geben, um beurteilen zu können, ob ein Modell für mich relevant und nützlich sein könnte oder nicht.

von Lysistra

Leidenschaftliche Tänzerin und Träumerin einer besseren Welt.

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