Es war in Kairo, im März des Jahres 1904, als Crowley im Beisein und mithilfe seiner Frau Rose eine Horus-Invokation durchführte. Das Ergebnis dieser Operation war das Liber L vel Legis, welches ihm von einer diskarnierten Wesenheit namens Aiwass an drei Tagen im April, genauer dem 8., 9. und 10. April, diktiert wurde.
Mit dem Diktat des Liber L wurde ein neues Äon eingeleitet, zumindest für uns Thelemiten. Soweit, so bekannt, nur: Was heißt das eigentlich? Was ist ein Äon und welches wurde eingeleitet? Was bedeutet das für uns Thelemiten?
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Nun denke ich, liebe Leser, dass dies etwas ist, was uns allen ein Fragezeichen in das Gesicht zeichnen kann. Vielleicht fallen manchen noch ein paar Schlagworte ein, wie: die Überwindung des Christentums, Wille, Wassermannzeitalter etc. Doch das ist eher ein Austausch der Begriffe als eine wirkliche Klärung.
Lasst uns deshalb die damit verbundenen Fragen stellen.
Was sind Äonen?
Unter einem Äonen verstehen wir eine bestimmte Art des in-der-Welt-seins, die verschiedene Kulturen miteinander teilen, innerhalb einer bestimmten vorherrschenden Zeitperiode. Es kommt hierbei nicht auf die unterschiedlichen Ausprägungen in den einzelnen Kulturen an, sondern auf das, was sie strukturell miteinander verbindet.
Beispiele:
Isisäon: Wir kennen aus der Antike diverse Götterpantheons. Unabhängig davon, ob aus Ägypten, Griechenland oder aus Sumer, alle Götter haben bestimmte Funktionen, die untereinander austauschbar sind. Und alle Götter befinden sich innerhalb der Schöpfung, das heißt, sie sind alle diesseitig.
Osirisäon: Das Christentum, Judentum oder der Islam sind sich darin einig, dass es einen Schöpfergott jenseits seiner eigenen Schöpfung gibt. Obwohl sich ihre Überzeugungen und ihr Glauben stark voneinander unterscheiden, verehren sie alle einen jenseitigen Gott.
Äonen wechseln nicht einfach in der Weise, wie das Umlegen eines Schalters. Doch sie verlieren ihre Überzeugungskraft und Vorherrschaft zu einer bestimmten Zeit. Das heißt, wir finden auch heute immer noch Kulturen des Isisäons und wir sind selbst immer noch stark vom Osiriszeitalter geprägt, wenn auch schon ein noch ferner Silberstreif des Horuszeitalters am Horizont sichtbar wird.
Ich ziehe es vor zu sagen, dass wir heute die Möglichkeit haben, uns zu Menschen des Horuszeitalters zu entwickeln. Ob das jemand will oder nicht, bleibt ihm selbst überlassen. Wir in der Thelema Society haben uns entschieden, dass wir uns dieser Herausforderung stellen wollen.
Isis, Osiris, Horus und dann?
Traditionell werden die zwei bisherigen und das heutige Äon als Isis-, Osiris- und Horusäon bezeichnet. Ich persönlich mag es, sie so zu benennen, da Eigennamen auch einen eigenen Charakter ausdrücken. Dazu komme ich aber noch, wenn es um die einzelnen Äonen geht.
Wird es weitere Äonen geben? Da diese Frage im Liber L bejaht wird, denn das L verkündet auch das Ende seiner Gültigkeit, gehe ich davon aus, dass dem so ist. Doch die Frage zu beantworten, wie es sein wird und was uns erwartet, scheint mir zum jetzigen Zeitpunkt mit der Situation eines von Geburt an Blinden vergleichbar zu sein, der wissen möchte, was Farbe ist. Kurz gesagt: Wir können es noch nicht wissen.
Lasst uns also erst einmal das Horusäon entwickeln und dafür sorgen, dass wir als Menschheit überhaupt so lange überleben.
Ich möchte an der Stelle nicht verschweigen, dass es durchaus auch andere Vorstellungen von wechselnden Zeitaltern gibt, wenn auch meist in Zyklen. Einige findest du bei Wikipedia:
Doch da es uns Thelemiten nicht um Glauben geht, sondern um Beobachtbares, Nachvollziehbares und für uns Relevantes, will ich beim Isis-, Osiris- und Horusäon bleiben.
Im Folgenden gehe ich auf die einzelnen Zeitalter ein. Bitte berücksichtige beim Lesen, dass manche Beschreibungen der Verdeutlichung halber idealtypisch sind.
Das Isisäon – der Kult des unendlichen Äußeren
Wir befinden uns in vorchristlicher Zeit, im Isisäon. Es ist gekennzeichnet durch ein Leben in, von und mit der Natur, einer belebten Natur, in welche der Mensch als ein Teil von ihr eingebettet ist.
Da die Natur beseelt ist, wird z. B. nicht einfach ein Baum gefällt, sondern vorab um Erlaubnis gefragt. Es wird auch nicht, wo es grade passt, ein Dorf errichtet. Man fragt die Geister, ob dies der richtige Platz zum Siedeln ist. Alles hat eine lebendige Beziehung zueinander und gehorcht den Geistern, Göttern und Ahnen. Man kann mit ihnen sprechen, versuchen, ihre Absicht zu verstehen und mit ihnen verhandeln.
Für mich drückt sich das „Mindset“ dieses Zeitalters besonders gut im folgenden Gedicht „Der Hauch der Ahnen“ des senegalesischen Dichters Birago Diop aus:
Ordnung und Chaos
Man darf sich diese Welt keinesfalls als primitiv oder einfach vorstellen. Ganz im Gegenteil. Sie ist höchst kompliziert, doch folgt sie dabei gänzlich anderen Regeln als unsere heutige Zeit. Das solltest du, falls du dich tiefer mit dem Thema beschäftigen willst, im Hinterkopf behalten. Doch zurück zum Thema.
In dieser Welt, in der niemand Naturgesetze kennt, ist alles, was man tut von der Kommunikation und dem Verstehen der Götter- und Geisterwelt abhängig. Diese unsichtbaren Wesen können überaus launisch sein, was durchaus tödlich enden kann.
Wie kann man nun in eine solche Welt eine lebensnotwendige Ordnung hineinbringen? Kurze Antwort: Durch Tabusysteme, Rituale und Zeremonien.
Wer weiß, wie man mit der lebendigen Welt spricht; wer weiß, was von den Geistern erwartet wird und was es zu vermeiden gilt, der kann erfolgreich handeln. Tabus, Rituale und Zeremonien dienen so dazu, die „Ordnung der Dinge“ zu kennen und zu bewahren, denn diese Ordnung garantiert das Überleben.
Der große und tödliche Gegenspieler der Ordnung ist das Chaos, welches die Ordnung verschlingen will. Im alten Ägypten wurde die Ordnung durch Ma’at und das sie umgebende Chaos durch Isfet symbolisiert. Oder besser gesagt, Ma’at und Isfet sind Ordnung und Chaos. Dieser Gedanke von Ordnung und Chaos findet sich auch schon bei den Stammeskulturen.
In den Büchern des rumänischen Religionswissenschaftlers Mircea Eliade findest du hierfür eine Vielzahl an Beispielen.
Lebensnotwendige Tabus
Bei Tabus handelt es sich nicht einfach um Gewohnheiten, die man auch mal brechen darf. Tabus wurden als lebensnotwendig aufgefasst, ebenso wie die vielen Rituale und Zeremonien lebensnotwendig waren. Ihre Missachtung bedeutete, den Tod in Kauf zu nehmen. Entsprechend konservativ und fest waren diese Gesellschaften.
Lebendige Gegenstände
Entsprechend der Vorstellung der Diesseitigkeit der Welt gab es auch keine strenge Trennung von Dargestellten und Darstellung. Anders formuliert: Wenn ein Handwerker z. B. im alten Ägypten eine Götterstatue des Horus anfertigte, dann wurde diese Statue durch das Hineinrufen des Gottes zu Horus. Sie hatte teil an seinem Wesen. Dies verlieh den Ritualen eine ungeheure Macht.
Zyklische Zeit
Passend zu der Naturnähe war die Vorstellung der Zeit eine zyklische. Alles geschah in Zyklen, im Großen wie im Kleinen. Der Gedanke des Fortschritts und der Entwicklung war den Menschen des Isisäons fremd. Das heißt nicht, dass nicht technische Fortschritte erzielt wurden. Nur hatte das auf diese grundlegende Überzeugung keine Auswirkung. Es war wie es ist, immer sein wird und ewig wiederkehrt.
Zurück ins Paradies?
Wer heute gerne zurück zum Ursprünglichen will, der sollte sich klarmachen, das dazumal Freiheit – wie wir sie heute verstehen – nicht existierte. Ein Mensch wurde in der Regel überhaupt nur dort als ein vollständiger Mensch angesehen, wo er geboren wurde.
Manche betrachten diesen Zustand als paradiesisch, was insofern passend ist, als es bei solchen Kulturen weder Gut noch Böse gibt, wohl aber Ordnung und Chaos. Meist wird auch im Kontext von alten Kulturen über die Religion dieser Menschen gesprochen. Das ist irreführend, denn für die damaligen Menschen war es ihr Verstehen und Wissen um ihre Welt. Sie glaubten nicht, sie lebten und erlebten ihre Welt genau so.
Verschiedene Mindsets
Zum Abschluss dieses kleinen Ausflugs lasst mich noch sagen, dass wir uns einem solchen „Mindset“ heute nur annähern können. Wir leben als Westeuropäer des 21. Jahrhunderts in einer gänzlich anderen Welt, mit einem gänzlich anderen „Mindset“.
Am nächsten mag den Menschen im Isisäon noch ein Kind kommen, das Angst vor dem Schatten unter dem Bett hat, mit seinem imaginären Freunden spricht und auf den gemeinen Stuhl schimpft, der sich so frech in den Weg gestellt hat, damit es dagegen läuft. Naja, und manchmal schimpfen wir ja auch noch auf die Bananenschale, auf der wir ausrutschen …
Wie geht es weiter?
Im nächsten Artikel werden wir uns mit der Übergangszeit vom Isis zum Osiriszeitalter beschäftigen. Falls du schon einen Überblick über die kommenden Artikel haben möchtest, dann kannst du folgende Tabelle nutzen.
Isisäon | Osirisäon | Horusäon | |
---|---|---|---|
Der Mensch ist … | Teil des lebendigen Ganzen und wird dadurch bestimmt. | isoliert von der Natur und steht ihr gegenüber. | Mitschöpfer in dem lebendigen Gewebe der Welt. |
Zeit ist … | kreisförmig. | linear voranschreitend. | relativ. |
Der Mensch wird beherrscht von … | der Willkür der Götter und der natürlichen Ordnung (z.B. Tabusystheme). | Naturgesetzen und/oder dem göttlichen Willen. | seinem eigenen Willen zum Ganzen. |
Denken ist … | einwertig. | zweiwertig. | mehrwertig. |
Das eigene Handeln orientiert sich an … | Traditionen, Tabusysthemen, Helden und Geschichten. | Moral und Ethik. | dem eigenen Wille im Zusammenhang mit dem Willen des Ganzen. |
Spiritueller Erfolg: | Seinen Platz in der natürlichen Ordnung finden. | Überwindung des „Egos“, der Welt und Einswerden mit Gott. | Seinen eigenen Willen zu erschaffen und zu folgen. |
Andere Menschen | Zugehörig zum Stamm/eigene Gruppe oder nicht | Staatszugehörigkeit | Der Andere als anderes Ich. |
Wer gehört zur eigenen Gruppe | Zugehörigkeit durch Geburt oder persönliche Annahme | Zugehörigkeit als formaler Akt | Zweckorientierte Wahlfamilie |
Rationalität | prärational | rational | transrational |
Die Welt ist geordnet durch … | Den Willen der Götter (Der auch beeinflusst werden kann). | Naturgesetze. | komplexe Systeme. |
Entwicklung/Evolution | Es ist wie es ist und immer sein wird, wenn auch in Zyklen. | Kausale Abfolge | Emergenzsprünge |
Zeichenverwendung und Deutung | ikonisch | indexikalisch | symbolisch |
Kult des … | unendlich Äußeren | unendlich Inneren | Menschen als Mitschöpfer |
von Tom Bombadil
Was möglich ist, gemeinsam mit Menschen, die sich einen offenen Geist bewahren, überrascht mich immer wieder. Und so sehe ich kein Ende des Weges vor mir, nur einen Horizont.