Sternenritual - Per ignem ad astra am 03.08.2023

Thelema – Die Entscheidung für ein blühendes Leben

Achte auf deine Gedanken, denn sie werden Worte.
Achte auf deine Worte, denn sie werden Handlungen.
Achte auf deine Handlungen, denn sie werden Gewohnheiten.
Achte auf deine Gewohnheiten, denn sie werden dein Charakter.
Achte auf deinen Charakter, denn er wird dein Schicksal sein.

Talmud

Die zentrale Kernaussage des Liber L vel Legis lautet: „Tu was du willst, sei das ganze Gesetz!“ So häufig sie von Gegnern und Thelemiten zitiert wird, so gegensätzlich wird sie auch interpretiert. Für die Gegner repräsentiert sie die Hölle, während sie von Thelemiten als höchste Vision angesehen wird. Für uns ist sie der Weg, der zu einem blühenden und erfüllten Leben führt.

Kurzfristiger Egoismus

Sehen wir uns die Deutung der Kernaussage des Liber Legis aus der Perspektive seiner Gegner an. „Zu tun, was man will“, wird hier als Aufforderung verstanden, allen unreflektierten Bedürfnissen und Wünschen zu folgen. Eine solche Moral ist der unvereinbare Gegensatz zu wichtigen christlichen Werten des Abendlandes, wie der Nächstenliebe und der Selbstlosigkeit.

Es werden oft Beispiele für kurzfristig egoistisches Handeln genannt, um die „Unmenschlichkeit“ der thelemischen Lehre zu veranschaulichen. Wer nur seinen eigenen Vorteil im Blick hat, schreckt nicht vor Gewalt und Zwang gegenüber anderen Menschen zurück – ganz nach dem Motto: „Immer zu meinem Vorteil – koste es, was es wolle.“ Ein so verstandener Egoismus degradiert Mitmenschen zu „Erfüllungswerkzeugen der eigenen Wünsche“, zu Sklaven, die sich dem eigenen Willen unterzuordnen haben.

Wenn „jeder tut, was er will“, erschaffen wir eine Gesellschaft von machthungrigen Einzelkämpfern, die Werte wie Gemeinsamkeit, Familie oder Zusammenarbeit vernichten und damit letztlich die gesamte Gesellschaft ins Chaos stürzen.

Wenn man die Kernaussage so deutet, kann man den Gegnern durchaus zustimmen. Sie übersehen jedoch, dass sich Egoismus nicht in einer kurzfristigen Triebbefriedigung erschöpfen darf, sondern langfristig gedacht werden muss. Denn ein kurzfristiger Egoismus ist streng genommen gar nicht egoistisch.

Jemand, der Gewalt anwendet, wird über kurz oder lang mit den Konsequenzen seiner Handlungen konfrontiert. Die Konsequenzen können sehr verschiedene Formen annehmen, sicher ist: Sie werden kommen. Sie reichen von Gefängnis- oder Geldstrafen, bis hin zum Leisten sogenannter Sozialstunden – von einem schlechten Ruf bis hin zu einem blauen Auge, wenn der andere zurückschlägt. Wir kennen es aus unserer Geschichte: Gewalt hat mittel- bis langfristig gedacht keinerlei Vorteile. Man erreicht damit genau das Gegenteil von dem, was man eigentlich erreichen will. D. h. man schadet nicht nur anderen, sondern sich selbst.

Langfristiger Egoismus

Worin besteht der Unterschied zwischen einem kurzfristig gelebten Egoismus und einem langfristig gelebten Egoismus?

Ein „kurzfristig denkender Egoist“ nimmt es in Kauf, anderen Menschen zu schaden, um sich selbst einen kleinen Vorteil zu verschaffen. Ein „langfristig denkender Egoist“ wird darauf achten, so zu handeln, dass es ihm langfristig gut geht und wird genau aus diesem Grund keinem anderen Menschen schaden.

Wer ein erfolgreiches Leben anstrebt, muss die Konsequenzen seines Handelns in die eigenen Entscheidungen einbeziehen! Die Konsequenzen des eigenen Handelns mitzudenken, heißt sich so zu verhalten, dass das eigene Glück und der eigene Erfolg langfristig aufrechterhalten wird.

Ein kurzfristig handelnder Egoist mag einen Geschäftspartner betrügen, um sich zu bereichern, in der Hoffnung, nicht erwischt zu werden. Ein langfristig handelnder Egoist wird hingegen ehrlich sein, damit beide Seiten einen möglichst großen Nutzen aus einer Zusammenarbeit ziehen können. Er wird eine Win-win-Situation für beide Seiten anstreben, um die Zukunft seines Geschäfts zu sichern. Für ihn wäre ein Betrug lediglich eine Dummheit, da aus einer fruchtbaren Kooperation für beide Seiten ein viel größerer Erfolg zu erwarten ist. Darüber hinaus wird er nicht das Risiko eingehen, als Betrüger entlarvt zu werden und damit seinem Ruf zu schaden.

Nicht der Egoismus selbst ist das Problem, sondern die Unfähigkeit langfristige Konsequenzen seines Handelns zu sehen. Einem langfristig denkenden Egoisten ist klar, dass er andere Menschen braucht, um eine tragfähige Basis zu haben, auf der sein eigenes Leben blühen kann. Einem kurzfristig denkenden Egoisten ist es unmöglich, seinen eigenen Willen zum Gesetz zu erheben.

Im Liber L heißt es „… Erfolg ist dein Beweis …“ (Ra-Hoor-Khuit, Vers 42). Erfolgreich wird nur ein Mensch sein, der seinen Willen gestaltet und lebt und damit sein Leben zum Blühen bringt. Der Wille als Gesetz hat nur dann Bestand, wenn der in ihm wohnende Egoismus langfristig gedacht wird.

Die langfristigen Wirkungen des eigenen Handelns verstehen zu lernen, ist der entscheidende, lebenswichtige Schlüssel. Jenseits der offensichtlichen Konsequenzen wirken Handlungen insbesondere immer auf die künftigen Möglichkeiten eines Menschen, auf sein Selbstbild und Selbstvertrauen, Wertschätzung, Wissen. Wenn ein Mensch vor einer wichtigen Entscheidung steht, sollte er über die Wirkung dieser Entscheidung auf den eigenen Charakter nachdenken, um sich dadurch die langfristigen Wirkungen bewusst zu machen. Wer das tut, merkt, dass Betrügen oder Schummeln letztlich „unterm Strich“ niemals einen Gewinn bringt.

Bedenke immer die langfristigen Wirkungen deiner Entscheidungen,
bevor du sie triffst.

So ist es für einen langfristig denkenden Egoisten, der in einer Beziehung lebt, kein Widerspruch zu sagen: „Meine Freude ist es, deine Freude zu sehen“ (vgl. Nuit, Vers 13). Ihm ist klar, dass er in einer Beziehung nur glücklich werden kann, wenn sein Partner/ Partnerin glücklich ist. Das hat nichts mit dem christlichen Hintergrund des „Selbstopfers“ oder der „Selbstlosigkeit“ zu tun. Er hat erkannt, dass er selbst glücklich werden muss, um andere Menschen glücklich zu machen.

Altruismus – Selbstlosigkeit

Der im Liber L geforderte „langfristige Egoismus“ wird oft mit Hedonismus verwechselt, der lediglich auf einen kleinen Lustgewinn oder die kurzfristige Bedürfnisbefriedigung abzielt. Dabei wird jedoch vergessen, dass die eigenen Gefühle oder Triebe keine verlässlichen Führer zum langfristigen Erfolg sein können. Gefühle orientieren sich an der Gegenwart und vergangenen Erfahrungen und haben die künftigen Möglichkeiten nicht im Blick. Meist sind sie nur eine Reaktion auf das, was wir in unserer Welt vorfinden. Sie wechseln viel zu schnell und sind zu flüchtig, um als verlässlicher Kompass für das eigene Glück dienen zu können.

Aber auch der von den Christen so hoch gepriesene Altruismus ist keine Alternative zum langfristigen Egoismus, sondern dessen Untergang. Die Forderung, seinen eigenen Willen bedingungslos einem Gott, einer Kirche, dem Staat oder auch anderen Menschen unterzuordnen, heißt, die eigenen Ideale für die Ziele anderer zu opfern. Daher ist die höchste christliche Tugend auch das „Selbstopfer„: seinen eigenen Willen zu ignorieren und sich damit den Willen anderer diktieren zu lassen. Folgerichtig kann ein „freier Wille“ von monotheistischen Religionen nur als Bedrohung empfunden werden, da er jeder äußeren Instanz das Recht abspricht, über das eigene Leben – dessen Werte und Ideale – zu entscheiden.

Die christliche Forderung „sich selbst für andere aufzuopfern“ ist nicht nur widersprüchlich, sondern auch unehrlich. Denn das Selbstopfer wird natürlich auch von den anderen erwartet – die anderen sollen sich für mich opfern. Die Forderung eines Selbstopfers wird offen als Druckmittel missbraucht, anderen Menschen den eigenen Willen aufzuzwingen. Auch wenn das gewöhnlich unter dem Deckmantel der „Gemeinnützigkeit“ verschleiert wird, bleibt selten verborgen, dass hinter dem „Gemeinwohl“ die Interessen von bestimmten Personen stehen, die sich selbst Vorteile auf Kosten anderer verschaffen wollen. Sie gehören zu jenen Menschen, die kurzfristig egoistisch handeln.

So waren es die Bauern, Ritter oder Kinder, die bei Kreuzzügen starben, um den Machteinfluss der Kirche zu steigern. Der Papst ließ sich nie auf einem Schlachtfeld sehen. Es waren die Satanisten, Hexen und Ungläubigen, die auf Scheiterhaufen von Inquisitoren „aus Liebe“ verbrannt wurden, damit ihre Seelen gerettet werden. Diese Beispiele mögen extrem anmuten, aber gerade in diesen Extremen zeigt der Altruismus sein wahres Gesicht.

Ein langfristiger, thelemischer Egoismus ist mit dem Altruismus unvereinbar. Denn wer sich selbst nicht für andere opfern will, kann das auch von anderen nicht erwarten. Ein langfristiger Egoist muss seine Probleme selber lösen. Damit ist das Privileg, sein Leben zu gestalten, ein Recht und eine Pflicht zugleich – für den Macher ein Segen und für den Schmarotzer ein Fluch. Denn wer die Verantwortung für seine Welt übernimmt, kann niemand anderen als sich selbst zur Rechenschaft ziehen.

Das größte Glück der größten Zahl

Ein langfristiger Egoist wird, wenn er auf seinem Eigeninteresse besteht, das auch selbstverständlich anderen zugestehen. Und das führt ihn keineswegs in Widersprüche. Warum? Die wahren langfristigen Eigeninteressen von Individuen stehen niemals gegeneinander. Denn eine Verbesserung des eigenen Wohlbefindens wird nicht erreicht, indem es anderen schlechter geht. Das Gegenteil ist der Fall: Nur wenn es anderen besser geht, wird es mir besser gehen und umgekehrt.

Menschliches Wohlergehen ist kein Nullsummenspiel.

Sicher: Wünsche von Individuen können konfligieren. Ob die jeweiligen Objekte der Begierde aber wirklich förderlich wären, ist eine andere Frage. Aber selbst wenn die Wünsche eines Menschen vernünftig wären, in dem Sinne, dass ihre Realisierung tatsächlich sein blühendes Leben fördern würden. Es ist für dein blühendes Leben nicht entscheidend, was du gerne hättest oder wärst, sondern was du hast und bist. Das heißt: Die rationalen Interessen einer Person müssen sich immer an der tatsächlichen Lebenssituation, dem tatsächlichen Können, den tatsächlichen Ressourcen orientieren.

Wenn ein Mensch zurückgewiesen wird bei einer Bewerbung, heißt das nicht, dass er dadurch Schaden erleidet. Natürlich kann das enttäuschend sein, aber das heißt nicht, dass die Annahme der Bewerbung tatsächlich im eigenen Interesse gewesen wäre. Allein dass jemand auf etwas abzielt, heißt nicht, dass das, worauf er abzielt, letztlich förderlich für ihn ist. Ob etwas förderlich oder schädlich ist, muss objektiv an den Erfordernissen des blühenden Lebens des einzelnen Menschen gemessen werden.

Und: Die Enttäuschung einer Hoffnung schädigt nicht die aktuelle tatsächliche Lebenssituation eines Menschen. Genau genommen ist sogar das Gegenteil der Fall: Ent-täuschen heißt auch immer, eine Situation oder seine eigenen Fähigkeiten mit weniger Selbsttäuschung beurteilen zu können. Enttäuschungen sind notwendig, um überhaupt dazulernen zu können und besser werden zu können: get real!

Langfristiges Eigeninteresse verlangt, dass man Abstand nimmt von unmittelbaren Wünschen und den größeren Kontext in den Blick bekommt. Unter dieser Perspektive ist Wettbewerb ein positives Phänomen.

Zum Beispiel kann eine Firma nur überleben, wenn sie zwischen Bewerbern wählen kann, um den besten zu finden. Das bringt mit sich, dass nur ausgewählte Bewerber den Job bekommen. Die Firma muss die geeigneten Arbeitnehmer nehmen, wenn sie langfristig blühend überleben will. Wettbewerb ist im Interesse aller Beteiligten: der Firma, der erfolgreichen Bewerber, der abgewiesenen Bewerber, der Kunden, der gesamten Wirtschaft.

Die weit verbreitete Meinung, dass eine Konkurrenzsituation ein Konflikt ist, ist eine der Illusionen, mit denen Menschen sich selbst das Leben zur Hölle machen. Der Fehler beginnt schon meist damit, dass die Ressourcen (Mittel) für knapp gehalten werden. Warum? Die wichtigste Ressource für menschliches, blühendes Leben ist Vernunft. Wissen kann ohne Verlust geteilt werden! Im Gegenteil: Das Teilen von Wissen fördert das blühende Leben.

Die Wahl des Menschen

Wenn wir genauer in die Worte „Tue was du willst, sei das ganze Gesetz!“ hineinsehen, werden wir entdecken, dass dort ein weiterer Hinweis verborgen ist. Dieses „sei“ verweist auf eine Wahlmöglichkeit des Menschen. Es hängt von jedem Menschen selbst ab, ob er seinen Willen zum Gesetz erhebt oder nicht. Du hast also die Wahl, dich für deinen Willen zu entscheiden oder es bleibenzulassen. Seinem eigenen Willen zu folgen, kann niemandem befohlen werden.

Doch was geschieht, wenn wir nicht unserem Willen folgen? Was ist die Folge, wenn wir keine langfristig denkenden Egoisten werden wollen? Wie sieht diese Wahlmöglichkeit aus, die wir im Folgendem „Grundentscheidung“ nennen? Nach welchen Handlungsprinzipien muss ein Mensch leben, der Thelemit werden bzw. blühend leben will?

Mit diesen Fragen werden wir uns in der folgenden Artikelreihe „Thelemische Grundentscheidung und Handlungsprinzipien“ beschäftigen.

Diese und vieles mehr findest du in unserem Mitgliederbereich.

Liebe ist das Gesetz, Liebe unter Willen!

von Thelema Society

Ein gemeinschaftliches Werk von einigen TS-Mitgliedern.

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